Als Berater begegne ich in meiner Arbeit vielen Menschen, die sich in einer Schleife von belastenden Gedanken, Mustern und Gefühlen gefangen fühlen. Ein zentraler Punkt in fast jeder Beratung ist die Frage: Wie funktioniert eigentlich unser Geist? Oder konkreter: Warum denke und fühle ich, was ich denke und fühle?
Ich möchte Sie heute auf eine kleine Reise in die Funktionsweise unseres Geistes mitnehmen – so, wie ich es auch oft meinen Klient*innen in der Onlineberatung erkläre. Denn mein Eindruck ist: Wenn wir verstehen, wie etwas funktioniert, nehmen wir es oft weniger persönlich und können leichter damit arbeiten.
Das Betriebssystem des Bewusstseins
Stellen Sie sich Ihren Geist wie ein hochkomplexes Betriebssystem vor. Es ist ständig aktiv, verarbeitet Daten, steuert Funktionen und versucht, Sie sicher durch den Alltag zu navigieren.
- Der Autopilot (Das Unbewusste): Ein Großteil unserer mentalen Prozesse läuft automatisch ab. Das sind die gelernten Programme, die wir seit unserer Kindheit installiert haben: die blitzschnelle Bewertung einer Situation, die automatische Stressreaktion, die tief verwurzelten Überzeugungen über uns selbst und die Welt. Das Unbewusste ist unglaublich effizient, aber nicht immer auf dem neuesten Stand. Es reagiert auf die Gegenwart oft mit den Strategien der Vergangenheit. In meiner Onlineberatung sehe ich häufig, wie diese alten „Programme“ – Muster aus der Herkunftsfamilie oder frühe traumatische Erfahrungen – das heutige Leben sabotieren.
- Der Nachrichtenkanal (Die Gedanken): Gedanken sind im Grunde nichts anderes als die internen Kommentare und Interpretationen, die unser Geist ununterbrochen erzeugt. Sie sind keine absoluten Wahrheiten, sondern nur Vorschläge, Meinungen oder Reaktionen auf das, was wir gerade wahrnehmen oder erinnern. Das ist ein wichtiger Punkt, den ich immer wieder betone: Gedanken sind Ereignisse im Geist, nicht Fakten über die Realität. Die Macht liegt nicht im Gedanken selbst, sondern in der Entscheidung, wie viel Beachtung wir ihm schenken.
- Das Barometer (Die Gefühle): Gefühle sind die unmittelbare Rückmeldung unseres Organismus auf die aktuelle Situation in Verbindung mit unserem inneren Betriebssystem. Sie sind Signale. Angst signalisiert Gefahr (echt oder gefühlt), Wut signalisiert eine Grenze, die überschritten wurde, und Trauer signalisiert Verlust. Wer Gefühle wieder zulässt und ihre Botschaft versteht, gewinnt einen mächtigen inneren Kompass zurück.
Das Wechselspiel: Der Kreislauf von Gedanken, Gefühlen und Handlungen
Der menschliche Geist arbeitet nicht linear, sondern zirkulär. Das, was wir denken, beeinflusst, was wir fühlen. Das, was wir fühlen, beeinflusst, wie wir handeln. Und wie wir handeln, bestätigt wiederum das, was wir ursprünglich gedacht haben.
In meiner psychologischen Onlineberatung sehe ich immer wieder, wie Klient*innen in einer bestimmten Gedanken-Gefühls-Spirale feststecken, die oft unbemerkt zu einem tiefen Gefühl der Unzufriedenheit oder Überforderung führt.
Ein Beispiel dafür ist, wenn ein alter, unbewusster Gedanke wie „Ich bin nicht gut genug“ die Gefühle von Angst und Zweifel auslöst, was dann zu einer Vermeidungshandlung führt, etwa dem Aufschieben von Aufgaben. Dieses Aufschieben führt dann oft zu einem mittelmäßigen Ergebnis, was den ursprünglichen Gedanken scheinbar bestätigt. Der Kreislauf schließt sich und verstärkt sich.
Der „Raum“ zwischen Reiz und Reaktion
Gerade in der Onlineberatung, wo die Konzentration auf das gesprochene Wort und die inneren Prozesse noch intensiver ist, üben wir, diesen Kreislauf zu unterbrechen. Der Psychotherapeut Viktor Frankl sagte einmal: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegt unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“
Genau dieser Raum ist der Fokus der Arbeit mit dem Geist. Wenn wir verstehen, wie der Geist funktioniert, dann können wir in diesem Raum bewusst wählen:
- Beobachten, nicht Identifizieren: Wir lernen, den Autopiloten und die automatischen Gedanken als „Nachrichten“ zu betrachten und nicht sofort in sie einzusteigen. (Ach, da ist wieder der Gedanke „Ich schaffe das nicht“).
- Im Raum anhalten: Wir entscheiden uns bewusst, dem Gefühl oder dem Drang zur automatischen Reaktion nicht blind zu folgen. Wir atmen. Wir nutzen die Distanzierung.
- Die neue Reaktion wählen: Anstatt in die alte, dysfunktionale Handlung (z. B. das Aufschieben) zu gehen, wählen wir eine bewusste, konstruktive Handlung, selbst wenn sie klein ist.
Der Geist lernt durch Erfahrung. Jede bewusste, vom Autopiloten abweichende Handlung beginnt, das alte Programm neu zu überschreiben. Es ist wie das Anlegen einer neuen neuronalen Autobahn neben dem alten, ausgetretenen Trampelpfad. Mit jedem Mal wird die neue Bahn breiter und attraktiver.
Wenn wir die Funktionsweise unseres Geistes nicht als starre Last, sondern als dynamisches System begreifen, haben wir den Schlüssel zur Veränderung in der Hand. Wir können beginnen, unser eigenes Bewusstsein zu trainieren und uns von dem Zwang des Autopiloten zu befreien.
Liebe Leserinnen und Leser,
der menschliche Geist ist das faszinierendste und mächtigste Werkzeug, das wir besitzen. Es geht nicht darum, die negativen Gedanken zu stoppen – das ist oft unmöglich. Es geht darum, ihre Macht über uns zu stoppen. Der Weg zu einem gelasseneren und erfüllteren Leben beginnt oft damit, ihn besser kennenzulernen und den „Raum der Wahl“ in sich zu entdecken und zu nutzen. Ich wünsche Ihnen diese neugierige Offenheit für Ihr eigenes Inneres.
