Das Wort „Liebe“ füllt Bücher, Lieder und auch meine Online-Beratungsstunden. Es ist das große Thema, das uns alle verbindet und zugleich oft verwirrt. Wenn Klient*innen zu mir kommen und über Beziehungsprobleme sprechen, taucht schnell die Frage auf: Was halten wir eigentlich für Liebe?
Die meisten von uns tragen eine tief verwurzelte Vorstellung von Liebe in sich, geformt durch Filme, Familiengeschichten und unsere ersten schmerzhaften oder glücklichen Erfahrungen. Doch aus meiner Arbeit weiß ich: Es gibt keine klare, universelle Definition von Liebe. Und genau das ist die Herausforderung – und die Chance.
Das kaleidoskopische Gefühl: Wie individuell Liebe empfunden wird
Versuchen Sie einmal, fünf Menschen zu fragen, was Liebe ist. Sie werden wahrscheinlich fünf völlig unterschiedliche Antworten bekommen. Für den einen ist es Geborgenheit und Vertrautheit, für die andere die Aufregung und Leidenschaft, die nie endet.
- Der Fokus auf das Tun: Für manche ist Liebe primär eine Handlung. Es geht darum, für den anderen da zu sein, sich zu kümmern und Unterstützung zu leisten (wie die berühmten „Languages of Love“ beschreiben).
- Der Fokus auf das Gefühl: Für andere ist es ein Zustand. Sie suchen das überwältigende Gefühl des „Verliebtseins“ und interpretieren das Abklingen dieses Anfangshochs oft fälschlicherweise als das Ende der Liebe.
- Der Fokus auf die Bindung: Wieder andere sehen Liebe als tiefe, verlässliche Bindung, die auch Schmerz, Kritik und die eigene Unvollkommenheit aushält.
Meine Erfahrung: Das größte Konfliktpotenzial in Beziehungen entsteht, wenn zwei Menschen lieben, aber völlig unterschiedliche Sprachen oder Definitionen von Liebe sprechen. Wenn ich Sicherheit brauche und mein Partner mir ständig teure Geschenke macht (weil das seine Definition von Liebe ist), fühlen wir uns beide unverstanden. Es geht darum, die Definition des anderen verstehen zu lernen.
Wenn Liebe irrt: Die Fallen der Fehlinterpretation
Manchmal empfinden wir etwas als Liebe, obwohl es aus psychologischer Sicht eher eine Komponente von Angst, Abhängigkeit oder einem ungestillten Bedürfnis ist. Das kann uns in ungesunde Muster führen:
- Die Abhängigkeitsfalle: Wir interpretieren die Angst vor dem Alleinsein als starke Liebe zum Partner. Wir klammern, weil wir ihn nicht verlieren wollen, obwohl wir eigentlich nur die Leere in uns füllen wollen.
- Die Besitzfalle: Manche verwechseln Liebe mit Besitzanspruch und Kontrolle. Sie interpretieren Eifersucht als Zeichen großer Zuneigung. Gesunde Liebe hingegen respektiert die Autonomie und Freiheit des anderen zutiefst.
- Die Opferfalle: Wir glauben, Liebe bedeutet, uns ständig selbst aufzugeben und uns für den anderen zu opfern. Heilsame Liebe beinhaltet immer auch die Liebe und den Respekt zu sich selbst.
Diese Deutungen gehen in die falsche Richtung, weil sie uns nicht nähren, sondern erschöpfen. Sie zeigen uns, dass das, was wir subjektiv als Liebe fühlen, nicht immer gesund oder förderlich für unser Wohlbefinden sein muss.
Ein philosophischer Stolperstein: Die Bedingungslose Liebe
Oft wird von der bedingungslosen Liebe (Agape) gesprochen – ein idealisiertes Konzept, das bedeutet, jemanden ohne Wenn und Aber, ohne Erwartungen, einfach nur für sein Sein zu lieben.
Ist diese Liebe wirklich möglich? Philosophisch gesehen ist das fraglich. Sobald wir uns für eine Person entscheiden, existiert bereits eine Bedingung: die Entscheidung. Zudem sind wir Menschen emotional und relational. Wir reagieren auf Verletzungen, Enttäuschungen und Verlässlichkeit.
Ich würde es so formulieren: Wir können uns dem Ideal der Bedingungslosigkeit annähern, indem wir versuchen, unser Gegenüber mit all seinen Fehlern anzunehmen und unsere Erwartungen zu reduzieren. Aber die Vorstellung einer absolut bedingungslosen Liebe ist vielleicht eher ein romantisches Ideal als eine alltagstaugliche Beschreibung menschlicher Beziehungen.
Die Quintessenz: Was zählt, ist die Wirkung
Die wichtigste Erkenntnis aus meiner Online-Beratungspraxis ist: Es spielt keine Rolle, wer wie was für Liebe hält.
Was zählt, ist die Wirkung dieser Empfindung in Ihrem Leben und in der Beziehung:
- Führt Ihre Definition von Liebe zu Wachstum, Freude und Sicherheit?
- Fühlen sich beide Partner respektiert und frei?
- Schafft Ihre Liebe Zuverlässigkeit und Stabilität?
Wenn die Antwort Ja lautet, dann ist Ihre Definition von Liebe genau die richtige. Konzentrieren Sie sich nicht auf die perfekte, philosophisch korrekte Definition, sondern darauf, wie Sie die Liebe, die Sie empfinden, in gesunde, unterstützende Handlungen umsetzen.
Liebe Leserinnen und Leser,
gehen Sie freundlich mit Ihrer eigenen Definition von Liebe um. Hören Sie auf, sich an idealisierten Vorstellungen zu messen, die weder real noch gesund sind. Sprechen Sie mit Ihren Liebsten darüber, was Liebe für Sie bedeutet, und versuchen Sie, die Deutung des anderen zu verstehen. Im Miteinander entsteht die wahre Tiefe.
