Wenn wir das erste Mal von Buddhas Lehre hören, dass das Leben von Leid durchdrungen sei, reagieren viele von uns mit Unbehagen. Ist das nicht eine zutiefst pessimistische Weltsicht? Ein düsterer Blick auf unsere Existenz? Doch vielleicht liegt gerade in diesem ersten Missverständnis der Schlüssel zu einer der befreiendsten Einsichten der menschlichen Weisheitstradition.

Das Wort, das verloren ging in der Übersetzung

Das Sanskrit-Wort „Dukkha“, das Buddha verwendete, trägt eine Bedeutungstiefe in sich, die das deutsche Wort „Leid“ nur unzureichend erfasst. Dukkha beschreibt nicht primär dramatisches Leiden oder tiefe Verzweiflung. Es meint vielmehr eine grundlegende Unzulänglichkeit, ein subtiles Unbefriedigtsein, das durch unsere Existenz weht wie ein leiser Wind.

Stellen wir uns einen Karren mit einer leicht verschobenen Achse vor – ein Bild, das im alten Indien verwendet wurde. Der Karren funktioniert, er rollt, aber etwas ist nicht ganz rund. Es rumpelt. Es ist nicht perfekt harmonisch. Genau diese Qualität meinte Buddha: Nicht dass alles furchtbar ist, sondern dass selbst in den schönsten Momenten eine zarte Brüchigkeit mitschwingt.

Die drei Gesichter des Dukkha

Buddha unterschied drei Ebenen dieser existenziellen Unstimmigkeit, und erst wenn wir alle drei verstehen, beginnt seine Lehre ihre transformative Kraft zu entfalten.

Das offensichtliche Leiden kennen wir alle: Krankheit, Verlust, Schmerz, Trennung. Niemand bestreitet, dass diese Erfahrungen Teil des Menschseins sind. Doch Buddha verharrte nicht bei dieser oberflächlichen Beobachtung.

Das Leiden der Veränderung ist subtiler. Es beschreibt die Tatsache, dass selbst unsere glücklichsten Momente vergänglich sind. Die Freude über eine Beförderung verblasst. Die Euphorie der frischen Verliebtheit wandelt sich. Nicht weil das Leben grausam wäre, sondern weil Wandel das Grundprinzip aller Phänomene ist. Wir leiden nicht am Glück selbst, sondern an unserem verzweifelten Versuch, es festzuhalten.

Das alles durchdringende Leiden ist die tiefste Schicht. Es meint die Art und Weise, wie wir uns selbst und die Welt konstruieren: durch ständiges Greifen, Ablehnen, Bewerten. Unser Geist ist in permanenter Bewegung, vergleicht, urteilt, sehnt sich nach dem Nächsten. Diese rastlose Unruhe ist so vertraut, dass wir sie für normal halten. Doch Buddha fragte: Muss das so sein?

Die Ursache liegt nicht im Leben selbst

Hier offenbart sich die revolutionäre Einsicht: Buddha sagte nicht, dass das Leben an sich leidvoll ist. Er sagte, dass unsere Art, uns auf das Leben zu beziehen, Dukkha erzeugt. Der Unterschied ist gewaltig.

Es ist unser Festhalten an Vorstellungen, wie die Dinge sein sollten. Unser Widerstand gegen das, was ist. Unsere Identifikation mit Gedanken und Gefühlen als „mein Selbst“. Diese Bewegungen des Geistes – nicht die Welt da draußen – sind die Quelle unseres Unbehagens.

Betrachten wir einen Moment der Enttäuschung: Ein Freund sagt ein Treffen ab. Das Ereignis selbst ist neutral. Aber beobachten wir, was unser Geist damit macht: Geschichten über Zurückweisung, Grübeln über unseren Wert, Vorwürfe, Interpretation. Das Dukkha entsteht in dieser Reaktionskette, nicht in der schlichten Tatsache der Absage.

Die Einladung zur Freiheit

Buddhas Lehre ist keine Aufforderung zur Resignation. Sie ist eine Einladung zur radikalen Ehrlichkeit. Können wir der Vergänglichkeit ins Gesicht schauen, ohne uns abzuwenden? Können wir Unbehagen fühlen, ohne sofort in Reaktionsmuster zu verfallen?

Die Praxis der Achtsamkeit lehrt uns genau das: nicht mehr und nicht weniger als das wahrzunehmen, was ist. Ohne die gewohnte Schicht von Interpretation. Wenn wir lernen, Erfahrungen direkt zu begegnen, entdecken wir einen Raum zwischen Reiz und Reaktion. In diesem Raum liegt Freiheit.

Das Leben beinhaltet weiterhin Schmerz. Menschen sterben. Beziehungen enden. Körper altern. Aber das Leiden – das zusätzliche Gewicht aus Widerstand, Ablehnung und Anhaftung – dieses Leiden ist optional. Es entsteht durch die Art, wie wir uns auf die unvermeidlichen Schwierigkeiten beziehen.

Ein Leben mit offenem Herzen

Die buddhistische Lehre vom Dukkha ist letztlich eine Einladung zu tiefem Mitgefühl – mit uns selbst und anderen. Wenn wir erkennen, dass alle Wesen dieser grundlegenden Unstimmigkeit ausgesetzt sind, entsteht natürliche Verbundenheit. Wir sind alle Karren mit verschobenen Achsen, die versuchen, so sanft wie möglich durchs Leben zu rollen.

Diese Einsicht führt nicht in die Resignation, sondern in eine wache Akzeptanz. Nicht als passive Ergebung, sondern als mutige Bereitschaft, dem Leben zu begegnen, wie es ist – mit all seinen Unebenheiten. Und in dieser Begegnung, in diesem Moment echter Präsenz, kann etwas aufleuchten, das jenseits von Dukkha liegt: ein Frieden, der nicht von äußeren Umständen abhängt.

Buddha nannte diesen Frieden Nirvana. Doch wir müssen nicht auf einen fernen Zustand warten. Jeder Moment, in dem wir aufhören, gegen die Realität anzukämpfen, jeder Atemzug bewusster Präsenz, ist ein Schritt in Richtung Freiheit.

Liebe Leserinnen und Leser,

das Leben ist weder leidvoll noch glückselig. Es ist – ganz einfach. Und in dieser Einfachheit, wenn wir ihr mit offenen Augen und offenem Herzen begegnen, liegt eine Schönheit, die keine Worte fassen können.

Rainer Schwenkkraus

Berater und Autor